"Die Wirklichkeit eines Menschen, liegt nicht in dem was er dir offenbart, sondern in dem was er dir nicht offenbaren kann. Wenn du ihn daher verstehen willst, höre nicht auf das was er dir sagt, sondern vielmehr auf das was er dir verschweigt."
(Khalil Gibran)

03/1999

Maja sah aus dem Fenster, zeichnete von innen die Linien der Regentropfen nach, die von außen an das Autofenster prasselten.
Es dämmerte schon ein wenig.
Sie schaute auf die Felder. Sie meinte die Umrisse von Kühen erkennen zu können. Es war alles so trostlos und trist. Fast sah es so aus, also konnte die Natur nachfühlen, wie ihr zumute war.
“Rechts, oder links?“
“Hallo?!“
Maja erschrak. Es war die Stimme des Fahrers der sie aus den Gedanken riss. Seine Augen sahen sie durch den Rückspiegel erwartungsvoll an.
Nun drehte sich auch die Krankenpflegeschülerin um, die neben ihm auf dem Beifahrersitz saß, und die man ihr als Aufpasserin mitgeschickt hatte: „ Wo geht es denn nun zu dieser Klinik?“ wollte Sie wissen. Maja zuckte mit den Schultern. Woher sollte sie das denn wissen. Außerdem war es ihr auch ziemlich egal.
Der Fahrer stieß einen leisen Seufzer aus.“Sie redet nicht sehr viel“, sagte die Schülerin fast ein wenig entschuldigend an den Fahrer gewandt. Warum sollte ich auch, dachte Maja genervt. Reden! Zeitverschwendung! Und schon gar nicht mit denen. Redeten schon seit fast einer halben Stunde über die Ausbildung einer Krankenschwester, und die Kürzungen im Gesundheitswesen.
Maja schaute auf ihre Uhr. Schon fast halb fünf. Sie dachte an Nina. Nina wurde ihr vor einigen Tagen ins Zimmer geschoben. Eigentlich hasste sie ja Mitpatienten, viel lieber wollte sie alleine sein. Maja wollte immer alleine sein. Doch die wenigsten konnten dies akzeptieren. Aber diese Nina war gar nicht so schlimm. 
Maja schaute wieder aus dem Fenster. Sie dachte daran, wie Nina sie völlig verzweifelt gefragt hatte, ob sie auch wirklich wiederkommen würde. „Natürlich komme ich wieder. In spätestens drei Stunden bin ich wieder da, hörte sie sich noch zu Nina sagen. Unweigerlich dachte sie an die letzten Worte, die Nina ihr hinterher gerufen hatte :„Und rede darüber, du mußt es ihnen sagen! Du hast es mir versprochen“. Wenn sie wüsste... 
Ja, Maja hatte es ihr versprochen. Und wirklich, Maja wollte versuchen darüber zu reden. Aber wie sollte man einer Therapeutin etwas über einen Psychiater erzählen, der..... Vielleicht lag Maja ja falsch, oder die Therapeutin würde ihr nicht glauben und sie auslachen, oder ihm alles erzählen?
„So, da sind wir! Das ist doch die richtige Klinik, oder?“
“Ja“, entgegnete Maja genervt. Als wenn es in diesem winzigen Dorf noch eine zweite Klapse geben würde.
Maja atmete tief durch. Ein leichter Anflug von Panik überfiel sie. Ihr Blick fiel auf den Mercedes der direkt neben dem Haupteingang stand. „Toll!“ dachte Maja. Ihre Eltern waren anscheinend auch schon da. Sonst waren sie nie so pünktlich.
“Wo müssen wir lang?“ fragte die Kinderkrankenschwester in spe, als sie im Foyer der Klinik standen.
“Aufzug“, antwortete Maja knapp.
“Welcher Stock?“
“Vierter. Ambulanz“
 
Maja..? Maja!...........
Maja zuckte zusammen und sah die Therapeutin an. Maja, hast du was genommen? Nein. Maja, ... ich habe deine Eltern rausgeschickt um noch einmal mit dir alleine zu sprechen... Irgendwie müssen wir eine Lösung finden, im Allgemein - Krankenhaus kannst du nicht mehr bleiben, dafür besteht aus medizinischer Sicht keine Indikation mehr... aber der Chefarzt der Kinderstation des allg. Krankenhauses, mit dem du ja auch schon gesprochen hast, und ich sind der Meinung das eine Entlassung nach Hause nicht unbedingt gut für dich ist. Die Klinik in Neuenkirchen, die deine Eltern und der Psychiater vorgesehen haben, kann dich frühestens in 6 Wochen aufnehmen. Ich persönlich kann das ehrlich gesagt  nicht verantworten. Wie gesagt, wir haben einen Platz auf Station frei....und,... du hast eben im Beisein deiner Eltern nur mit den Schultern gezuckt, würdest du das denn wollen? Maja nickte. Deine Eltern, bzw. dein Vater hat ja nun sehr deutlich gemacht, das er das anders sieht. Oder würdest du lieber nach Neuenkirchen gehen? ..Mir egal! Aber nach Hause willst du auf keinen Fall? Maja schüttelte  den Kopf was so viel wie Zustimmung bedeuten sollte. Ihr war es egal wo sie hin kam, was man mit ihr machte aber nach Hause wollte sie definitiv nicht. Und am liebsten wollte sie tatsächlich hier in der Kinder- u. Jugendpsychiatrie bleiben. Dass die Türen verschlossen waren, und es da hinter vielleicht ein wenig chaotisch zuging, schreckte sie nicht ab. Sie schreckte und erschreckte gar nichts mehr.
Ok, dann werde ich  deine Eltern nochmal reinbitten.
Also... begann die Therapeutin, Maja hat deutlich gemacht, dass sie nicht nach Hause möchte und sie mit einer Aufnahme auf unserer Station einverstanden wäre. Ich persönlich halte es für bedenklich, und nicht für ausreichend Ihre Tochter 6 Wochen, die sie bis zur Aufnahme in der anderen Klinik warten müsste, nur ambulant zu betreuen.........


Eine Woche zuvor.....

Sie ging durch die eisigen Winde am Fluss entlang. Es dämmerte. Wieviel Zeit inzwischen wohl vergangen war. Sie wusste es nicht. Hatte man ihr Verschwinden schon bemerkt? Plötzlich kam Maja in den Sinn, dass sie eigentlich morgen einen Termin in der psychiatrischen Ambulanz für Kinder- und Jugendliche hatte.  

Maja hatte sich in den letzten Monaten verändert, sie hielt der Belastung zu Hause nicht mehr stand, ihre Geschwister waren ausgezogen  und sie war den Konflikten u. Problemen nun allein ausgesetzt. Und seitdem man sie auf die Hauptschule "strafversetzt" hatte....
 Sie fing an Tabletten zu nehmen und ähnliche selbstschädigende Dinge zu tun. Dies blieb ihrem Umfeld nicht verborgen. Zwar war sie in gewisser Art und Weise schon immer verhaltensauffällig gewesen, doch hatte man nun wohl den Eindruck man könne das nicht länger hinnehmen und  brachte Majas Verhalten bei den Eltern zur Sprache.

Nachdem der Druck der Umgebung auf Majas Eltern immer stärker wurde, es könne doch so mit Maja nicht weitergehen, sah Maja´s Vater sich irgendwann gezwungen zu handeln. Der Hausarzt empfahl einen Psychiater mit "gutem Ruf", den Maja nun schon seit einigen Monaten alle zwei Wochen aufsuchen musste. Doch verliefen diese Besuche nicht so, wie sich Majas Eltern und ihre außerfamiliäre Umgebung das wünschte.
 Majas Zustand veränderte sich durchaus, allerdings wurde sie noch verwirrter und verzweifelter als sie es war. Sie hatte Angst und stand nun einem  Konflikt gegenüber der weitaus schwieriger zu bewältigen war als alle anderen  zuvor.  Wie konnte sie die für sie belastenden und schädigenden Besuche beim Psychiater umgehen, ohne den Zorn des Vaters und dessen Auswirkungen auf sich zu ziehen. Was war schlimmer?  

Maja konnte ihren Absturz kaum mehr vor Ihrer außerfamiliären Umgebung verbergen. Man kontaktierte die Eltern erneut und wies darauf hin, dass man für Maja bald, bei aller Rücksicht auf den Vater und seinen "gesellschaftlichen Stand", keine Verantwortung mehr übernehmen könne. Man erinnerte noch einmal an die psychiatrische Ambulanz in Wohnortnähe die auf Kinder - u. Jugendliche spezalisiert sei und vielleicht besser helfen könne. So kam es, dass Maja vor zwei Wochen das erste Mal diese Ambulanz zusammen mit ihrer Mutter aufgesucht hatte.

Jetzt, wo Maja den Fluss entlang ging und sich daran erinnerte, dass sie morgen eingentlich dort einen Termin hatte, kamen ihr die Worte der zuständigen Psychologin in den Sinn. Als sie Maja den Termin gegeben hatte, hatte sie Maja gefragt ob sie die zwei Wochen bis dahin aushalten würde... Und Maja hatte sich damals gefragt, was diese Frage überhaupt sollte, natürlich würde sie es bis dahin aushalten. Was anderes blieb ihr wohl kaum übrig..

Und nun war sie hier, in einer Stadt in der sie zwar schon des öfteren gewesen war, in der sie sich aber nicht besonders gut auskannte. Nach einem erneuten Streit zu Hause, bei dem zum ersten Mal auch Majas Mutter eindeutig gegen Maja Stellung bezog, und der Angst vor dem Psychiater zu dem sie trotz des Gespräches in der Ambulanz, immer noch ging, hatte Maja sich entschlossen, irgendetwas tun zu müssen. Und da ihre kläglichen, naiven Suizidversuche bisher erfolglos geblieben waren, entschloss sie kurzer Hand einfach "wegzulaufen". Vor Ihren Eltern, vor dem Psychiater und vor sich selbst.

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